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Zwischen Tageskuchen und Emaillebecher

von Jürgen Zesche

Die Sonne scheint und ich plane, mit meinem Mietfahrrad eine Spazierfahrt durch die Straßen von Amsterdam zu machen. Auf Empfehlung eines Freundes begebe ich mich auf den Weg zum Haarlemmerdijk. Was ich hier finden soll, sind kleine Geschäfte mit einer wunderbaren Auswahl an Designobjekten, Modeaccessoires und Kunstobjekten.

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Die zusammengestauchte und in die Höhe gequetschte Puppenstadt zieht an mir vorbei. Jedes Haus, individuell und einzigartig, versinkt nach wenigen hundert Metern in der Uniformität der Masse. Die Geschwindigkeit auf dem Fahrrad erledigt den Rest. Viel Zeit für Blicke nach links und rechts bleiben nicht, ohne das Risiko eines Zusammenstoßens mit anderen Verkehrsteilnehmern einzugehen. Ich beschließe, das Tempo zu drosseln. Ich wollte ja eine Spazierfahrt machen und kein Rennen gewinnen. Ich muss des Öfteren anhalten, um einen Blick auf meine, zum Hosentaschenformat gefaltete Karte zu werfen. Noch einmal links und dann bin ich dort – im Haarlemmerdijk. Außer Atem schließe ich mein Fahrrad so an, wie es mir der Mann im Fahrradverleih erklärt hat. Dazu benötige ich zwei r. Ich beuge mich hoch und bleibe erst einmal stehen, um mir einen Überblick über den Haarlemmerdijk zu verschaffen. Das Wetter ist herrlich und unzählige Leute mit kleinen Tüten strömen aus den Geschäften. Ich laufe ein wenig die Straße hinauf und gehe in das eine oder andere Geschäft. Die Läden hier sind wirklich sehr klein und die Auswahl stark limitiert. Die Besonderheit: Viele junge Designer und Studenten bieten in den Stores ihre schönsten Stücke zum Verkauf an.

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Ich schaue die Straße entlang und da fällt mein Blick auf ein Ladenschild mit der Aufschrift Six and Sons. Mein Interesse ist geweckt und die romantische Vorstellung eines Familienbetriebes, welcher sich schon über Generationen hält, zieht mich in die Nähe des Ladens. Die Tür steht offen. Der Blick hinein lässt ein warmes und wohliges Gefühl in mir aufsteigen. Das Geschäft hat innen an den Wänden abblätternde Farbe und sieht abgenutzt aus, jedoch nicht schäbig, sondern bewohnt und behaftet mit Geschichte und Leben. Im Eingangsbereich sind einige Rucksäcke an der Wand aufgehängt. Ein Esstisch kreuzt den Weg. Darüber hängt eine alte Lampe und eine mit Farben bekleckste Leiter lehnt an der Wand. Weiter links befindet sich eine Treppe, die hinauf zur Galerie führt. Rechts führt eine Treppe hinunter zum Souterrain. Man kann von hier aus in beide Etagen hineinschauen. Es riecht nach Kaffee. Die Treppe hinauf gibt es Sofas, einen alten bekritzelten Tisch, Stühle und einen Tresen, an dem Kaffee, Tee und ein Tageskuchen angeboten werden. Ich beschließe hier zu rasten und die Eindrücke auf mich wirken zu lassen. Ich wähle den bemalten Tisch. Mit einem freundlichen Lächeln bekomme ich den am Tresen bestellten Kaffee und Schokoladenkuchen an meinen Platz serviert. Der Kaffeebecher ist ein roter Emaillebecher und erinnert an Feldgeschirr. Ich halte ihn in beiden Händen, denn er hat keinen Henkel. Gegenüber auf dem Sofa sitzen zwei Studenten mit ihren Notebooks und sind offensichtlich am Arbeiten. Auch sie haben emaillebebecherten Kaffee. Das W-LAN ist hier frei nutzbar, so verrät es ein Schild am Tresen.
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Ich betrachte den Laden genauer und kann kaum einen Unterschied zwischen der angebotenen Ware und der Innenausstattung erkennen. Das Gefühl des sich aufdrängenden „reinen“ Produktes, das um Abverkauf bettelt, stellt sich hier nicht ein. Es reihen sich Antiquitäten neben neue Produkte, wie die Rucksäcke im Eingangsbereich, welche dort wie von den Bewohnern des Hauses an ihre Garderobe gehängt erscheinen. In Kombination mit den Antiquitäten werden neue Produkte zu Dingen, die zwar aussehen, als wären sie aus einer anderen Zeit. Sie wirken allerdings nicht wie erkennbarer, abgedroschener RetroKram, sondern wie gut erhaltene Originalware aus alten Tagen.
Mein Kaffeebecher ist nun leer und ich schaue ihn mir noch eine Weile an. Je länger ich ihn betrachte, desto mehr steigt in mir das Verlangen des Besitzens auf. Ich frage den Verkäufer hinter dem Tresen, ob ich diesen für eine angemessene Entschädigung einstecken dürfe. Er schmunzelt und antwortet, dass ich ihn in verschiedenen Farben hier kaufen kann. Es gäbe auch kleine und große Teller, die Auswahl fände ich im Souterrain. Man könne hier eigentlich fast alles kaufen, was man sieht. Jetzt begreife ich. Keines der ausgestellten Produkte ist Dekoration oder Präsentationsmöbel. Alle Waren sind so liebevoll miteinander arrangiert, dass man nicht von der Verkaufsabsicht erschlagen wird. Die kleine Küchenanrichte mit dem Geschirr, der Tisch, die Stühle, einfach alles ist zu erwerben. Meine Augen leuchten vor Freude und ich begebe mich ins Souterrain, in den eigentlichen Warenraum. Ich möchte vier von diesen Bechern. Es gibt genau vier verschiedene Farben – das passt ja. Hier unten kann man eine gut sortierte Unordnung wahrnehmen. Das heimische Gefühl, das mich am Eingang ergriff, lässt auch hier nicht nach. Ich bin bei Six and Sons zwar nicht zuhause, komme mir jedoch vor wie ein gern gesehener Gast, als wäre ich zu Besuch bei guten Freunden. Auch das Gespräch mit dem äußerst freundlichen Ladenbesitzer bestätigt mich in der Bewunderung eines kombinierten Shopkonzeptes, welches nicht nach Marktstrategie, Einkaufsstatistiken und -verhalten riecht. Ich bedanke mich und verlasse den Laden mit einem Lächeln im Gesicht. Draußen besinne ich mich wieder, und als würde man aus einer anderen Welt wieder in die Realität zurückkehren, habe ich sogar kurzeitig vergessen wo ich mein Fahrrad abgestellt habe.