Next Article
Previous Article

Voller Beutel, voller Kopf.

Text: Jürgen Zesche, Fotos: Casco
55022ad55f31986a55e1c591_2.1.jpg
Eingangshalle Casco

Außer Atem, abgehetzt und vom Regen durchnässt, schaue ich aus dem Fenster des Zuges. Eigentlich wollten wir nur in Amsterdam recherchieren, doch nun sind Marion und ich auf dem Weg nach Utrecht. Bei unterschiedlichsten Begegnungen legten uns unsere Gesprächspartner ans Herz, Casco zu besuchen. Tatsächlich bekamen wir kurzfristig einen Termin mit Jolande van der Heide. Leider hatte wegen anderer Interviews niemand aus der Gruppe Zeit, uns zu begleiten. Unsere Foto-Profis waren ausgebucht und unser Englisch ganz schön eingerostet. Hier in Holland spricht irgendwie jeder gut Englisch. Oft sogar noch mehr Sprachen. Manchmal ist es ganz schön hinderlich, Viele zu sein: Bei etwa 83 Millionen Deutschen lohnen Übersetzungen englischsprachiger Fernsehsendungen ins Deutsche. Die in den Niederlanden ausgestrahlten unsychronisierten Filme lassen jeden en passant Englisch sprechen, ob beim Bäcker oder in den Hochschulen. Das Neben- und Miteinander verschiedenster Nationen findet so eine Basis. Es ist wirklich beeindruckend, wie fördernd und fordernd es ist, mit verschiedensten Kulturen zusammenzuleben. Nicht nur in sprachlicher Hinsicht.

55022c509b3de49e59f3c4ee_3.4.jpg
New Habits Part 3: Habits between Rules mit Jesko Fezer und Andreas Müller, Maximilian Weydringer, Ienke Kastelein, Annette Krauss und Wietske Maas: Der Arbeitsplatz der Casco Mitarbeiter ist integriert in die damals aktuelle Ausstellung New Habits

Inzwischen sind wir am Hauptbahnhof Utrecht angekommen. Der Bahnhof an sich ist nicht sehr groß, doch wir finden keinen Ausgang. Vom Bahnsteig aus geht eine Behelfsbrücke durch eine große Baustelle in die Bahnhofspassagen. Dort wird man von Geschäften und Einkaufsmöglichkeiten visuell erschlagen. Wir sind in einer riesigen Shopping Mall. Utrecht, so erfahren wir später von Jolande, ist ein Bahnknotenpunkt. Viele Durchreisende wollen den Bahnhof gar nicht verlassen. Man kann hier sogar seine Wocheneinkäufe auf dem Heimweg tätigen. Wir finden hier alles, außer einem Ausgangsschild. Es ist zum Verzweifeln. In Amsterdams Hauptbahnhof hatten wir schon das magere und verwirrende Wegeleitsystem bemängelt. Hier scheint es gleich ganz zu fehlen. Nach einer Weile „Laufen bis es nicht mehr weitergeht“ gelingt es uns, durch ein Parkhaus aus dem Gebäude zu kommen. Es regnet immer noch. Einen Regenschirm hätte man sich ja in der Mall kaufen können, aber auf keinen Fall gehen wir da noch mal rein. Utrecht wirkt auf uns bizarr. Wir fotografieren eine riesige Teekanne auf dem Dach der Shopping Mall und ein UFO, das in einem hohen Gebäude steckt. Nach sechs Tagen Amsterdam-Aufenthalt sind wir recht entzückt aber eigentlich nicht verwundert über diesen Anblick.

Schließlich nimm uns nach einem ca. 2 km langen Fußmarsch zum Museumsquartier Jolande sehr freundlich in Empfang und bietet uns Tee an. Zwei nasse Pudel nehmen das Angebot dankend an. Sie zeigt uns die Räumlichkeiten im Erdgeschoss: alles sehr klar und aufgeräumt. Vielbeschäftigte Agenturen kokettieren oft mit einem sortierten Chaos. Hier ist das nicht so. Wir betreten einen weiteren Raum, dessen Eintritt zum Arbeitsbereich durch drei Torbögen verziert wird. Sie sind wie Kulissen in den Raum gestellt und gehören zur Ausstellung „New Habits“, die gerade im Obergeschoss gezeigt wird. Unsere Gastgeberin bietet uns einen Platz auf einer Bank mit interessanter Form an. Ein U im Grundriss. Wir sitzen auf der einen Geraden des Us und Jolande uns gegenüber.

Hinter ihr ist eine kleine Bibliothek. In unserem Rücken arbeiten Leute an ihren Computern, telefonieren oder besprechen sich. Das Gewusel hinter mir finde ich etwas befremdlich. Ich brauche einige Zeit, um mich wohl zu fühlen.

55022b642ffd286d55aad26c_3.2_300.jpg
New Habits Part 2: Body at work mit Yvonne Rainer und Aimée Zito Lema: Auch die Schürzen sind zum Anziehen bereit ...

Das Gespräch dreht sich gleich um niederländisches Design und die Frage, warum – wie wir mehrfach in Amsterdam feststellten – Klamottenläden gleichzeitig auch Cafés sind und Cafés wiederum oft als Büros genutzt werden. Jolande erzählt uns, dass durch überteuerte Mieten, aus Platzmangel und aus der Not heraus, Raum sehr effizient genutzt werden muss. In Holland sei alles viel kleiner. Aus dieser Notwendigkeit sind im Nachhinein sehr viele nützliche Nebeneffekte entstanden, so dass diese Geschäftssymbiosen, statt in Konkurrenz zueinander zu stehen, sich gegenseitig befruchten. Selbst wenn es sich um zwei Galerien an einem Ort handelt. Das von uns beobachtete Phänomen der multifunktionalen Begegnungsstätte aus der finanziellen Notwendigkeit heraus hat sich also auf Dauer als sehr ökonomisches Konstrukt mit beflügelnder Nebenwirkung entwickelt.

Jolande erzählt ausführlich über Casco. Uns wird klar, dass Casco keine Agentur ist, wie wir angenommen hatten, sondern eher eine Vereinigung oder ein interdisziplinärer Knotenpunkt im internationalen Künstler-, Designer- und Philosophennetzwerk. Die Gemeinschaft ist wie ein physisch begehbarer Open Source Bereich, in dem man forscht und experimentiert und seine Ergebnisse und Erkenntnisse der Allgemeinheit zur Verfügung stellt. Casco versteht sich als offener Raum, wo man Grenzen auflöst, Kompetenzen vermischt und Konventionen überdenkt, als Bühne für Diskussionen, Filme, Workshops, Ausstellungen und Publikationen. Dabei ist Casco weder Produzent noch Teil des jeweiligen „Experiments“, sondern eher ein Katalysator, der den vorhandenen Komponenten die Möglichkeit gibt, sich über verschiedenste Kombinationen neu zu erfinden. Die Casco-Bibliothek ist prall mit Publikationen aus dem offenbar erfolgreichen Netzwerk gefüllt. Die ganze Einrichtung des Büros ist ein Produkt des interdisziplinären Gestaltungsprozesses: Möbel werden hier nicht nur ausgestellt, sondern auch entsprechend ihrer vorgesehenen Funktion genutzt. Sie ist ein gutes Beispiel für das schon in Amsterdam viel beobachtete Konzept der Mehrfachnutzung. Im Gespräch stellen wir fest, dass man hier in Holland eher dazu neigt, Ungewöhnliches miteinander zu kombinieren und sich vom Ergebnis überraschen lässt, als ergebnisorientiert zu arbeiten. Von dieser Methode, Grenzen der eigenen Vorstellungskraft zu durchbrechen und Dinge voranzutreiben, bin ich überzeugt. Wer weiß schon wie es weiter geht, wenn man nur das eine Ziel im Fokus hat.

55022bca9b3de49e59f3c4e3_1.0.jpg
New Habits Part 2: Body at work mit Yvonne Rainer und Aimée Zito Lema: Erst beim Anfassen bemerkt man die ungewöhnlichen Stoffe der Schürzen

Es ist spät geworden und Jolande bietet uns noch einen Besuch der Ausstellung im Obergeschoss an, obwohl diese eigentlich schon geschlossen hat. Sie gibt uns einen grünen Jutebeutel mit dem gerade brandneuen Casco-Logo. Ich schaue neugierig hinein. Bunte Bleistifte mit Casco-Aufschrift, Flyer für verschiedene Veranstaltungen und andere Blätter mit viel Text, die ich erst einmal nicht genauer untersuche.

Die Gemeinschaft ist wie ein physisch begehbarer Open Source Bereich, in dem man forscht und experimentiert und seine Ergebnisse und Erkenntnisse der Allgemeinheit zur Verfügung stellt.

Am Eingang zur Ausstellung müssen wir unsere Schuhe ausziehen und in Holzsandalen steigen. Diese sind handgefertigt und stammen aus einem Projekt und es gibt keine zwei Gleiche. Beim Betreten der Ausstellung auf unterschiedlich wackligen Beinen stelle ich überrascht fest, dass man Dinge in den „Schuhen von jemand anderen“ ganz anders wahrnimmt. Offenbar habe ich einen Teil von mir am Eingang abgegeben, und das macht die ganze Sache für mich noch befremdlicher. Diese Schuhe sind auch überhaupt nicht bequem. Sie drücken und kippeln. Ich kann mich kaum auf die Ausstellung konzentrieren. Muss ich das überhaupt? Ich beschließe, einfach alles auf mich wirken zu lassen. Hier ist viel Text. An den Wänden, an Exponaten. Viele Texte liegen in Kopien auf Stapeln zum Mitnehmen. Jetzt erkenne ich den Sinn hinter dem Jutebeutel. Super, ich kann das alles später lesen und stecke ausgewählte Schrift- stücke in meinen grünen Begleiter.

In einem Raum mit dem Thema „Textilien“ wird meine Aufmerksamkeit auf Schürzen gelenkt. Eine hängt an der Wand. Man kann sie umbinden. Die ganze Ausstellung ist eh sehr interaktiv gestaltet, stelle ich fest. Andere Schürzen hängen in einer Reihe dicht und ordentlich zusammen, wie in einem Kleiderschrank oder einer Garderobe in einer Fabrik. Sie sind auf den ersten Blick gleich, blau mit leichten Farbnuancen. Bei näherer Betrachtung merke ich, dass jede Schürze aus einem anderen Stoff besteht. Sie fassen sich alle anders an. Ich bin überrascht, wie aus einem nützlichen und recht preiswerten Arbeitskleidungsstück durch Austausch des typischen zu erwartenden Materials, eine hohe Wertigkeit erzeugt werden kann. Eine fühlt sich fasst wie ein Abendkleid an. Ich lasse diesen Kontrast noch ein wenig auf mich wirken. Die Art, wie die Dinge arrangiert und inszeniert sind, imponiert mir. Auf eine subtile Art und nicht so frontal, gibt es die kleinen „Ahas“ zu erleben. Man muss sich schon bemühen, um dahinter zu steigen. Das macht das Ganze sehr reizvoll. Für jedes selbstentdeckte Detail in dieser kleinen Forschungsreise wird man mit positiver Überraschung und Erkenntnis belohnt. Die Zeit rennt uns davon. Wir müssen zurück nach Amsterdam und ich bedaure, dass die Ausstellung zu umfangreich ist, um heute alles anzuschauen und zu begreifen. Schnell stecke ich noch ein paar Texte ein, um Verpasstes im Nachhinein zu verinnerlichen. Schließlich kommen wir wieder an den Ausgang und zu unseren Schuhen zurück. Nach dem zurück erhaltenen Teil von mir und dem dazugewonnenen vollen Kopf verabschieden wir uns von Jolande und begeben uns auf den Rückweg durch den etwas schwächer gewordenen Regen.